Wenn in der Öffentlichkeit von einem „Störfall“ gesprochen wird, dann ist das meistens ziemlich ungenau. Klar ist: Was ein „Störfall“ ist, ist in Deutschland in der Strahlenschutzverordnung definiert. Darin heißt es: "...Störfall: Ereignisablauf, bei dessen Eintreten der Betrieb der Anlage oder die Tätigkeit aus sicherheitstechnischen Gründen nicht fortgeführt werden kann und für den die Anlage auszulegen ist oder für den bei der Tätigkeit vorsorglich Schutzvorkehrungen vorzusehen sind..." Klar ist auch: Die Fachleute in den Kernkraftwerken sind erfahren und können einen möglichen Störfall ganz genau einordnen.
Man unterscheidet zwei Klassen von Fehlfunktionen: "Betriebsstörungen" – kleinere Abweichungen vom Normalbetrieb, die sofort behoben werden können – und "Auslegungsstörfälle", schwerwiegendere Störungen der Anlage.
Auch international gibt es ein Einteilungssystem: das INES-Schema der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO. Es gliedert Vorkommnisse in kerntechnischen Anlagen in die acht Stufen – 0 bis 7: Stufe 0 bedeutet keine oder sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung, Stufe 1 Störung, Stufen 2 und 3 Störfall und die Stufen 4 bis 7 umfassen Unfälle.
Kommen Störungen in Kernkraftwerken vor, dann müssen sie der Öffentlichkeit gemeldet werden. Wann, das bestimmt in Deutschland die Meldeverordnung: Sie teilt die Störungen in vier weitere Melde-Klassen ein.
Betriebsstörungen
Wäre Dein Fahrrad ein Kernreaktor, dann könnte man eine quietschende Kette oder eine lockere Schraube am Schutzblech als „Betriebsstörung“ bezeichnen: Das Fahrrad fährt noch und ist auch noch verkehrssicher – es fehlen nur ein paar Tropfen Öl auf der Kette.
Im Kernkraftwerk würde so etwas zum Beispiel einem geringen Druckanstieg in Kühlmittelleitungen über den Regelbereich hinaus entsprechen: Wenn bei so einer Betriebsstörung der Druck ansteigt, dann werden Störungsmelder und Begrenzungseinrichtungen aktiviert; so wird der Fehler automatisch korrigiert. Der Betrieb kann unterdessen weitergehen.
In einer amtlichen Meldeverordnung ist genau geregelt, welche Ereignisse beim Betrieb eines Kernkraftwerks in welcher Frist den Behörden gemeldet werden müssen
Für den Fall der Fälle gibt es ein Sicherheitssystem, das bestimmten Ideen folgt. Die oberste Regel lässt sich ganz einfach in einem Satz zusammenfassen: "Doppelt hält besser". Guckt man genau hin, dann spielen aber eine ganze Reihe von Sicherheitsmaßnahmen eine Rolle:
- Redundanz
- Entmaschung
- Diversität
- Fail-Safe und andere Aspekte
5.4Was tun? – Das Sicherheitskonzept
Qualitätssicherung: Bei der Auswahl der Werkstoffe und ihrer Verarbeitung werden eine Vielzahl von Kontrollen vorgenommen. Während des Reaktorbetriebes sind laufende Kontrollen vorgeschrieben.
Diversität: Da auch mehrfach vorhandene gleichartige Sicherheitssysteme aus der gleichen Ursache (z. B. Konstruktionsfehler) versagen können, werden für den gleichen Zweck technisch unterschiedliche Einrichtungen vorgesehen. [diversitas (lat.) = Verschiedenheit]
Fail-Safe: Soweit eine technische Realisierung möglich ist, wird die Reaktoranlage bei Ausfällen automatisch in einen sicheren Zustand überführt ("fehlverzeihendes" System). [fail (engl.) = versagen, safe (engl.) = sicher, gefahrlos]
Konservative Auslegung: An vielen Stellen der gesamten Reaktoranlage sind so genannte Auslegungsreserven vorgesehen, das heißt, die Systeme in einem Kernkraftwerk sollen stets mehr verkraften, als im Alltagsbetrieb nötig ist.
Automatische Leittechnik: Bei einer auftretenden Störung arbeitet das Reaktorsicherheitssystem selbständig und lässt sich durch ein möglicherweise falsches Verhalten des Betriebspersonals nicht stören. Das Sicherheitssystem kontrolliert sich selbst.
Entmaschung: Damit ein ausfallendes Sicherheitssystem das Nachbarsystem nicht beeinträchtigt, besitzen sie keine gemeinsamen Komponenten. Außerdem werden sie räumlich getrennt und baulich besonders geschützt angeordnet.
Redundanz:
Auch wenn ein Kraftwerk so geplant und gewartet wird, dass es eigentlich über Jahrzehnte hinweg reibungslos funktionieren sollte – zu 100 Prozent lassen sich Störungen nicht ausschließen.
Daher ist das Kernkraftwerk wie eine russische Matroschka aufgebaut: Zwischen den einzelnen Hüllen befinden sich Unterdruckzonen und Druckschleusen. Die Wärme wird im Notfall vom Notkühlsystem abgeführt und die ionisierende Strahlung ist sicher eingeschlossen.
5.5Was tun, wenn`s doch mal passiert?
Das Matroschka-Prinzip
Wie in einer Matroschka ist der Kernbrennstoff im Kernkraftwerk in mehrere Hüllen eingepackt. Die Innerste sieht man nicht auf den ersten Blick: Das Kristallgitter des Brennstoffs in den Brennstäben hält die radioaktiven Elemente zusammen. Die Brennstäbe drumherum sind gasdicht, so dass radioaktive Gase, die direkt bei der Spaltung entstehen, weitgehend eingeschlossen bleiben.
Um das Reaktordruckgefäß herum befindet sich eine Betonschicht, die der Sicherheitsbehälter umgibt – und darüber wölbt sich beim Druckwasserreaktor die typische meterdicke Betonkuppel (beim Siedewasserreaktor ist das Gebäude eckig gebaut) zum Schutz gegen äußere Einwirkungen.
Auch wenn ein Kraftwerk so geplant und gewartet wird, dass es eigentlich über Jahrzehnte hinweg reibungslos funktionieren sollte – zu 100 Prozent lassen sich Störungen nicht ausschließen.
Daher ist das Kernkraftwerk wie eine russische Matroschka aufgebaut: Zwischen den einzelnen Hüllen befinden sich Unterdruckzonen und Druckschleusen. Die Wärme wird im Notfall vom Notkühlsystem abgeführt und die ionisierende Strahlung ist sicher eingeschlossen.
5.6Risiko- und Sicherheitsforschung
Die Sicherheit eines Kernkraftwerks wird laufend überwacht. Doch das genügt noch nicht: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen auch die Risiken abzuschätzen, um vorsorglich planen zu können.
Eine der wichtigsten Forschungseinrichtungen in Deutschland, die sich mit der Sicherheit von Kernreaktoren beschäftigt, ist die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Dabei geht es nicht nur um die Technik: Kernkraftwerke sind so genannte MTO-Systeme, in denen Menschen eine mindestens so große Rolle spielen wie Maschinen.
MTO-Systeme
Kernkraftwerke bestehen aus jeder Menge Technik – für ihren Betrieb sind aber auch Menschen nötig, die sie bedienen. An vielen Stellen ist durch automatische Kontrollen sichergestellt, dass etwaige Fehler von Menschen keine katastrophalen Auswirkungen haben können.
Doch im Laufe des Betriebs – zum Beispiel beim Beschicken des Reaktors mit neuen Brennstäben – sind menschliche Entscheidungen und eine richtige Organisation der Arbeiten gefragt. Wissenschaftler untersuchen daher Kernkraftwerke auch als Mensch-Technik-Organisations-Systeme (MTO-Systeme), zum Beispiel daraufhin, wie Entscheidungsprozesse ablaufen, wie sehr Entscheidungen von Einzelpersonen abhängen (Risiko) und wie viele Fehler das gesamte System verträgt.
Sicherheitsforscher versuchen auch, einzelne Komponenten zu verbessern, vorhandene Sicherheitsreserven zu bestimmen, einzelne Schutz- und Sicherheitssysteme in ihrem Zusammenspiel unter immer neuen Bedingungen zu beurteilen und den Ablauf möglicher bzw. hypothetischer Störfälle zu analysieren.
Wichtige Sicherheitssysteme werden mehrfach (redundant) angeordnet. Es sind mindestens zwei Systeme mehr vorhanden (n + 2), als für die eigentliche Funktion benötigt werden. [redundantia (lat.) = Überfülle]